Ohne KI bald k.o.?

EMO Han­nover 2019: Mit „Inge­nieur-Denke“ sys­tem­a­tisch kün­stliche Intel­li­genz einsetzen

Jörg Krüger.
Jörg Krüger.

Frank­furt am Main, Sep­tem­ber 2019 – Die Über­schrift provoziert – mit Absicht. Denn mit Blick auf Chi­na, Japan und USA, die laut ein­er Studie von Boston Con­sult­ing aus dem Jahr 2018 auf dem Gebi­et kün­stliche Intel­li­genz (KI) schon lange kräftig aufrüsten, ist in Europa Aufwachen ange­sagt. Einen Weck­ruf startet daher Prof. Jörg Krüger, Leit­er des Fachge­bi­ets Indus­trielle Automa­tisierung­stech­nik, Insti­tut für Werkzeug­maschi­nen und Fab­rik­be­trieb (IWF) der TU Berlin, und Bere­ich­sleit­er Automa­tisierung­stech­nik am Fraun­hofer IPK. Der Tipp des KI-Pio­niers für Pro­duk­tion­er: Lassen Sie sich auf der EMO Han­nover 2019 von der WGP (Wis­senschaftlichen Gesellschaft für Pro­duk­tion­stech­nik) und muti­gen Maschi­nen­her­stellern zu ersten KI-Schrit­ten inspirieren.

Herr Pro­fes­sor Krüger, wie und wann hat­ten Sie Ihren ersten Kon­takt zu KI?
Jörg Krüger: Das geschah 1992, als ich mich mit kün­stlichen neu­ronalen Net­zen bei der Diag­nose von Werkzeug­maschi­ne­nach­sen beschäftigte. Heute bin ich fasziniert von den enor­men Fortschrit­ten durch Deep Learn­ing (Teil­bere­ich des Machine Learn­ing, der neu­ronale Net­ze und große Daten­men­gen nutzt, Anm. des Autors) und Con­vo­lu­tion­al Neur­al Net­works (laut Wikipedia ein von biol­o­gis­chen Prozessen inspiri­ertes Konzept im Bere­ich des maschinellen Ler­nens, Anm. des Autors), die zum Teil die men­schlichen Fähigkeit­en in der Muster- und Bilderken­nung bei der Ver­ar­beitung von Audio- und Video­dat­en bere­its übertreffen.

Mit ein­facheren Struk­turen kom­plexe KI-Sys­teme beherrschen

Im Novem­ber 2018 erschien im Münch­n­er Riva-Ver­lag das Buch Der unter­legene Men­sch: Dig­i­tal­isieren wir uns mit Algo­rith­men, kün­stlich­er Intel­li­genz und Robot­ern selb­st weg?. Was hal­ten Sie von den pes­simistis­chen KI-Ansicht­en des Autors Prof. Armin Grun­wald, der ja als Leit­er des Büros für Tech­nolo­giefol­gen-Abschätzung beim Deutschen Bun­destag (TAB) einen gewis­sen Ein­fluss besitzt? 
Jörg Krüger: Ich ver­ste­he seinen skep­tis­chen Blick auf die teil­weise Undurch­schaubarkeit dieser Sys­teme, denn deren Kom­plex­ität nimmt weit­er zu. Wir müssen ein­fachere Struk­turen der Automa­tisierung schaf­fen, mit denen sich die Kom­plex­ität maschineller Lern­ver­fahren bess­er ver­ste­hen und beherrschen lässt. Es geht darum, ob Pro­duk­tion­er einem ler­nen­den Sys­tem soweit ver­trauen kön­nen, dass sie es in der Pro­duk­tion „scharf schal­ten“. Weil sich Aus- und Weit­er­bil­dung aber oft nicht schnell genug an diese schnelle Entwick­lung in der Forschung anpassen, gelingt es uns nur mit erhe­blich­er Verzögerung, entsprechende Fähigkeit­en zur Beherrschung der Kom­plex­ität aufzubauen und Ver­trauen in diese neuen Tech­nolo­gien zu schaf­fen. Das alles schürt natür­lich die Vorstel­lung, dass der Men­sch irgend­wann unterliegt.

Das Domä­nen­wis­sen der Mitar­beit­er anzapfen

Und dann ste­ht der Pro­duk­tion­er vor einem Big Data-Gebirge: Wie geht er damit um?
Jörg Krüger: Es kommt sehr darauf an, um welche Art von Dat­en es sich han­delt und welche Zielset­zung der Pro­duk­tion­er ver­fol­gt. So ging es einem Anwen­der darum, per Bilderken­nung 50.000 bis 60.000 Teile in einem Lager zu erken­nen und zu ver­wal­ten. Bish­er übern­immt ein Lager­ar­beit­er die Arbeit, bei der er die Teile anhand eines Kat­a­loges iden­ti­fiziert und sortiert. Wir ließen von jedem Teil nur eine begren­zte Anzahl von Auf­nah­men machen, die zum Erfassen ein­er neu­ronalen Net­zstruk­tur eigentlich nicht aus­re­ichen. Doch wir stell­ten fest, dass sich mit vor­trainierten Net­zen auf Basis nichtin­dus­trieller Bild­dat­en in Kom­bi­na­tion mit weni­gen indus­triellen Bauteil­dat­en schon früh akzept­able Erken­nungsquoten für Assis­ten­z­funk­tio­nen erzie­len lassen. Das KI-Sys­tem arbeit­et dann als hal­bau­toma­tis­ch­er Assis­tent, der dem Lager­ar­beit­er jew­eils die fünf wahrschein­lich­sten Teile anzeigt. Dank dieser Assis­tenz arbeit­et er nun deut­lich effizien­ter und genauer. Das funk­tion­iert aber nur, wenn man die Prozesse sehr genau ken­nt. Daher lautet meine Botschaft: Nicht nur in Hard- und Soft­ware investieren, son­dern auch sys­tem­a­tisch das so genan­nte Domä­nen­wis­sen der Pro­duk­tion­er nutzen. Men­schen müssen außer­dem ler­nen, Vorgänge in der Fab­rik zu bew­erten und zu entschei­den, welche Auf­gaben die KI übern­immt. Generell ist das Ein­beziehen des Domä­nen­wis­sens aus der Pro­duk­tion ele­men­tar, um neue Wertschöp­fungspoten­ziale schnell und sys­tem­a­tisch zu identifizieren.

Dat­en sind dig­i­taler Goldstaub

Cle­vere Assis­tenz ist ein Aspekt, was hat KI noch zu bieten?
Jörg Krüger: Die in den Fir­men erzeugten Dat­en sind für mich dig­i­taler Gold­staub. Viele Unternehmen sind sich aus mein­er Erfahrung noch nicht bewusst, welche Wertschöp­fungspoten­ziale sie damit erschließen kön­nen. Die Werkzeuge für das maschinelle Ler­nen wer­den immer leis­tungs­fähiger. In der Pro­duk­tion soll­ten wir nun sys­tem­a­tisch die Dat­en und das Domä­nen­wis­sen verbinden, um die Prozesse weit­er zu verbessern und effizien­ter zu wer­den. Dieses The­ma möchte ich mit den Kol­le­gen der WGP forciert ange­hen. Wir soll­ten z.B. unseren Fokus nicht wie früher auf die Erhöhung der Erken­nungsquoten mith­il­fe von maschinellen Lern­ver­fahren richt­en, son­dern ein­er­seits sys­tem­a­tis­ch­er als bish­er die vorhan­de­nen Pro­duk­tions­dat­en auf ihr Poten­zial zum maschinellen Ler­nen analysieren und ander­er­seits auch sys­tem­a­tis­ch­er die daraus resul­tieren­den Poten­ziale zur Effizien­zsteigerung in der Pro­duk­tion ableit­en. Ich empfehle dazu das Youtube-Video des kanadis­chen Wis­senschaftlers Ajay Agraw­al beziehungsweise sein Buch Pre­dic­tion Machines: The Sim­ple Eco­nom­ics of Arti­fi­cial Intel­li­gence. Hier kann ein Automa­tisier­er oder Pro­duk­tion­er die Chan­cen von KI aus der ökonomis­chen Per­spek­tive ken­nen­ler­nen, um den dig­i­tal­en Gold­staub im eige­nen Unternehmen zu ent­deck­en. Es entste­hen plöt­zlich völ­lig neue Wertschöp­fungsmod­elle und Nis­chen für kleine Unternehmen sowie vor allem für Start-ups.
Welche Rolle spie­len Sensoren?
Jörg Krüger: Die „Sen­sorisierung“ ist in der Regel der erste Schritt, um Dat­en für das Ler­nen zu gewin­nen. Je leis­tungs­fähiger und gün­stiger die Werkzeuge für das maschinelle Ler­nen sind, umso wertvoller wer­den die Dat­en, mit denen dies geschieht. Ger­ade im Bere­ich der Sen­sorisierung sind ja durch die Forschung und Entwick­lung in Bezug auf Indus­trie 4.0 große Fortschritte zu sehen – eine gute Voraus­set­zung, um jet­zt den näch­sten Schritt zum maschinellen Ler­nen in der Pro­duk­tion zu machen.

Sys­tem­a­tis­che KI-Lösun­gen dank deutsch­er „Inge­nieur-Denke“

Doch wie sehen unsere Chan­cen aus gegenüber Län­dern wie Chi­na, die ja enorme Beträge in KI stecken?
Jörg Krüger: Die Investi­tio­nen in KI-Infra­struk­turen, die ger­ade aus Chi­na bekan­nt wer­den, sind in der Tat beein­druck­end: kaum vorstell­bar, hier aus Deutsch­land in der gle­ichen Dimen­sion mithal­ten zu kön­nen. Im inter­na­tionalen Wet­tbe­werb sehe ich jedoch für Deutsch­land eine gute Zukun­ftschance darin, mit struk­turi­ert­er Inge­nieur-Denkweise an das The­ma der indus­triellen Nutzung von KI bzw. dem maschinellen Ler­nen her­anzuge­hen. In dieser Form soll­ten wir in Zukun­ft auch unsere weltweit sehr gute Posi­tion im Bere­ich der Automa­tisierung weit­er­en­twick­eln und erhal­ten können.

Was reizt Sie – nicht nur mit dem Blick des KI-Inter­essierten und forschen­den Pro­duk­tion­ers – beson­ders an der EMO Han­nover 2019?
Jörg Krüger: Inter­es­sant wer­den sich­er Exponate von WGP-Kol­le­gen sein. So hörte ich von einem Insti­tut, dass er etwas sehr Span­nen­des aus dem Bere­ich Mus­ter­erken­nung an Werkzeug­maschi­nenantrieben ausstellen wird. Mehr darf ich nicht ver­rat­en. Eben­so dürfte sich eine Stip­pvis­ite zu manchen Maschi­nen­her­stellern und Automa­tisierung­sun­ternehmen lohnen.

Herr Pro­fes­sor Krüger, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Trumpf: KI-Ein­satz in der Produktion
„Kün­stliche Intel­li­genz ist kein Job-Killer, son­dern ein weit­er­er kon­se­quenter Schritt, um die Wet­tbe­werb­s­fähigkeit Deutsch­lands und den Wohl­stand hier abzu­sich­ern“, sagt Dr. Thomas Schnei­der, Geschäfts­führer Entwick­lung des Geschäfts­bere­ich­es Werkzeug­maschi­nen der Trumpf GmbH + Co. KG, Ditzin­gen. „Unser über Jahrzehnte gesam­meltes Wis­sen im Maschi­nen­bau ist für den Ein­satz von Kün­stlich­er Intel­li­genz in der Indus­trie das A und O. Diese Chance müssen wir nutzen.“ Die Schwaben set­zen KI bere­its in die Tat um: 25 Mitar­beit­er sor­gen bei Trumpf bere­its für die grup­pen­weite Abstim­mung und Trans­parenz der Aktiv­itäten zu diesem The­ma. So analysiert KI zum Beispiel in einem Laser­vol­lau­to­mat­en die zunächst miss­glück­te, dann aber erfol­gre­iche Ent­nahme von geschnit­te­nen Blechteilen und automa­tisiert die Vorge­hensweise mit Hil­fe der analysierten Dat­en. Die Meth­ode kann Trumpf dann auf Maschi­nen dieses Typs über­tra­gen. Bewährt hat sich KI auch in der eige­nen Pro­duk­tion: Sen­soren in der Mas­chine erfassen bei einem kurzen Test große Men­gen an Dat­en und senden sie über die Steuerung in die Cloud, in der die KI-Lösung sie automa­tisch analysiert. Eine geschick­te Kom­bi­na­tion aus Simulations‑, Mess- und Analy­sev­er­fahren ermöglicht so die Über­prü­fung der Mas­chine in unzäh­li­gen Betrieb­szustän­den. Stimmt in den Dat­en etwas nicht, erken­nt sie nicht nur den Fehler, son­dern durch ihre vorheri­gen Analy­sen auch, wie er sich beheben lässt.

Autor: Niko­laus Fecht, Jour­nal­ist aus Gelsenkirchen
((Umfang: rund 8700 Zeichen inkl. Leerzeichen))

Kategorien: 2019, September