Neue Unternehmenskultur in der smarten Fabrik

Die Dig­i­tal­isierung und Ver­net­zung ganz­er Werk­shallen und die neuen Abläufe in Indus­trie 4.0‑Szenarien stellen immer drän­gen­der die Frage, welche Rolle der Mitar­beit­er in dieser Umge­bung spielt und wie sein Vorge­set­zter mit ihm umge­hen muss. Vor allem die Dynamik in Pro­duk­tion­slin­ien, die durch Kün­stliche Intel­li­genz (KI)-unterstützt wer­den, bed­ingt, dass der Men­sch an der Mas­chine mit mehr Entschei­dungskom­pe­tenz und mehr Ver­ant­wor­tung aus­ges­tat­tet wer­den muss, als so manch­es Organ­i­gramm das heute vor­sieht. Die Führungskraft, ihrer­seits durch Algo­rith­men von Rou­tinetätigkeit­en ent­lastet, muss Abschied nehmen von den klas­sis­chen Kon­troll­funk­tio­nen und sich mehr in der Rolle des Coachs pro­fil­ieren. Indus­trie 4.0 wird weitre­ichen­dere Kon­se­quen­zen haben, als viele denken. Aber, und da sind sich die Experten einig, das sollte nie­man­den davon abhal­ten, mit der Dig­i­tal­isierung anz­u­fan­gen – bess­er heute als mor­gen. Die METAV dig­i­tal vom 23. bis 26. März 2021 präsen­tiert fol­glich viele Lösun­gen zu den The­men­feldern Indus­trie 4.0. und in der Folge Arbeit 4.0.

In den ver­gan­genen acht Jahren haben wir bei Indus­trie 4.0‑Projekten fest­gestellt: Tech­nol­o­gisch und planer­isch haben wir das gut konzip­iert, aber es muss vom Mitar­beit­er auch akzep­tiert wer­den“, gibt Prof. Gisela Lan­za, Lei­t­erin des wbk Insti­tuts für Pro­duk­tion­stech­nik im Karl­sruher Insti­tut für Tech­nolo­gie und Mit­glied der WGP (Wis­senschaftliche Gesellschaft für Pro­duk­tion­stech­nik), die Parole aus. Das The­ma Arbeit 4.0 hat sich wie selb­stver­ständlich auf die Agen­da geset­zt, die Wis­senschaftler mussten über Akzep­tanz, Moti­va­tion und neue Rol­len­verteilun­gen in der dig­i­tal­isierten Fab­rik nach­denken.  Ein­deutiges Ergeb­nis bis­lang: 100 Mil­lio­nen Euro schwere Förder­pro­gramme für Autonomik und Smart Ser­vices, 26 vom Bun­deswirtschaftsmin­is­teri­um geförderte Mit­tel­stand­skom­pe­tenzzen­tren und über 300 Anwen­dungs­beispiele in der Pro­duk­tion bestäti­gen auch im Zeital­ter von Algo­rith­men und kün­stlich­er Intel­li­genz die 2.500 Jahre alte Weisheit des griechis­chen Philosophen Pro­tago­ras: Der Men­sch ist das Maß aller Dinge.

Intelligente Systeme fördern auch die Motivation

In der Pro­duk­tion erfordern vor allem die Ist-Zeit-Steuerung und Algo­rith­mus gestützte Überwachung schnelle Entschei­dun­gen. Die ifp-Soft­ware GmbH in Aachen bietet ein Pro­gramm für die Ver­net­zung und Opti­mierung von Pro­duk­tion­sstraßen an. Die Fir­ma nutzt die METAV dig­i­tal gerne, um poten­ziellen neuen Kun­den die Möglichkeit­en aufzuzeigen. Mith­il­fe von Zeitrei­hen errech­net ein Algo­rith­mus wahrschein­liche Fehlerquellen und sendet sie in Sekun­den­schnelle zum Mechaniker. Das Sys­tem erre­icht bis zu 30 Prozent höhere Anla­gen­leis­tung – und motiviert zudem die Mitar­beit­er. Jörn Stein­beck, Co-Founder des Unternehmens, erläutert die Auswirkun­gen auf den All­t­ag im Shopfloor: „Wir arbeit­en in Ist-Zeit, ein gut trainiert­er Algo­rith­mus kann Sekun­den später Lösungsvorschläge aufzeigen.“ Wenn aber der Arbeit­er mit dieser Infor­ma­tion erst zum Meis­ter laufen müsse, um dessen Weisung einzu­holen, dann sei „der Zeitvor­sprung wieder ver­spielt“. Heißt im Klar­text: Um die Möglichkeit­en von KI-Anwen­dun­gen in der Prax­is voll auszuschöpfen, „muss der Mitar­beit­er weitre­ichen­der entschei­den dür­fen, aber auch mehr vom Gesamt­sys­tem ver­ste­hen.“ Stein­becks Schlussfol­gerung: „Wir kom­men weg von der Kon­trolle, hin zum Kon­text“. Oder in den Worten von Lan­za: „Der Mitar­beit­er braucht min­destens so viel Eigen­ver­ant­wor­tung, um den Fehler selb­st sofort zu beheben. “

Sebas­t­ian Wes­ki, Ver­trieb­sleit­er der Exapt Sys­temtech­nik GmbH in Aachen, macht ähn­liche Erfahrun­gen. Die Fir­ma entwick­elt und vertreibt seit 1967 CAM-Sys­teme und bietet zusät­zlich eine intel­li­gente Betrieb­smit­telver­wal­tung für die zerspanende Indus­trie. Das kom­plexe Pro­gramm hat unter anderem intel­li­gente Arbeitsabläufe hin­ter­legt, so dass Werkzeu­gan­forderun­gen, Lager­be­we­gun­gen und Rüstop­ti­mierun­gen automa­tisch ablaufen. Dadurch erre­icht die Soft­wareschmiede heute schon bis zu 30 Prozent Pro­duk­tiv­itätssteigerung, auf der METAV dig­i­tal kön­nen sich Inter­essierte die Lösun­gen vor­führen lassen. Auch hochmod­erne CAM-Anwen­dun­gen laufen nur dann effek­tiv, wenn der Men­sch an der Mas­chine eine größere Ver­ant­wor­tung und unmit­tel­bare Entschei­dungs­befug­nis hat. „Unser Sys­tem erlaubt einen Pro­belauf mit einem dig­i­tal­en Zwill­ing. Der Mechaniker kann sehr schnell sehen, ob die einge­set­zten Werkzeuge beispiel­sweise die Ober­fläche verkratzen oder ob der Vorschub zu groß ist. Dann meldet er das sofort an die CAD-Pro­gram­mier­er zurück. Wir verbinden mit unser­er Soft­ware die Men­schen an den unter­schiedlich­sten Sta­tio­nen im Zerspan­prozess“, erläutert Wes­ki. Und das heißt: Mehr Ver­ant­wor­tung, mehr Kom­pe­tenz, mehr Entschei­dungs­ge­walt für den Werk­er an der Maschine.

Kleine Losgrößen profitabel produzieren

Tausende ver­schieden­er Pro­duk­te und Vari­anten bis zu Los­größe eins zu fer­ti­gen, ohne kost­spielig Anla­gen umzurüsten“ – das ist die Vision bei Bosch Rexroth. Die Bosch Gruppe steigerte 2019 ihren Umsatz mit ver­net­zten Industrie‑4.0‑Lösungen für Fer­ti­gung und Logis­tik um 25 Prozent auf 750 Mio. Euro. Diese Vision ist nur mith­il­fe von intel­li­gen­ten Assis­ten­zsys­te­men zu erre­ichen. Doch auch die neueste Gen­er­a­tion von kol­la­bori­eren­den Indus­trier­o­bot­ern (Cobots) erfordert eine neue Unternehmen­skul­tur und flachere Entschei­dungsstruk­turen. Die Müller Maschi­nen­tech­nik GmbH aus Düren vertreibt Leicht­bau­ro­bot­er, die in den unter­schiedlichen Bere­ichen den Mechaniker unter­stützt. Rund um die Appa­rate hat sich ein „Ökosys­tem“ aus ver­schieden­sten Werkzeu­gen entwick­elt – die eis­er­nen Helfer laden, palet­tieren, schweißen, fräsen, schleifen, je nach Anforderung. Inter­essierte kön­nen sich die ganze Band­bre­ite der Ein­satzmöglichkeit­en gerne auf der METAV dig­i­tal vor­führen lassen. Pas­cal Klee, Verkauf­sleit­er Automa­tion, betont: „Ein Cobot soll mit dem Men­schen zusam­me­nar­beit­en. Gemein­sam kön­nen sie dann statt nur ein­er Mas­chine eine ganze Pro­duk­tion­sein­heit bedi­enen.“ Es gehe um „Net­work­ing“, nicht darum, den men­schlichen Kol­le­gen zu erset­zen. Im Gegen­teil: Die Möglichkeit, in Koop­er­a­tion auch kleine Los­größen prof­ita­bel herzustellen, geben dem Unternehmen den entschei­den­den Wettbewerbsvorteil.

KI-Agent entlastet von Routine

Doch nicht nur der Pro­duk­tion­s­mi­tar­beit­er, auch sein Vorge­set­zter sieht sich mit grund­sät­zlich neuen Anforderun­gen kon­fron­tiert. Im inter­diszi­plinären Ver­bund­pro­jekt teamIn ver­suchen Forsch­er der WGP in Koop­er­a­tion mit zwei Indus­trie­un­ternehmen her­auszufind­en, wie dig­i­tale Tech­nolo­gien und KI sin­nvoll in den Pro­duk­tion­sprozess inte­gri­ert wer­den kön­nen. Die Wis­senschaftler haben vor allem die neue Rolle der Führungskraft im Fokus und ver­fol­gen vier Teilziele: Es gilt, geeignete dig­i­tale Leitungsin­stru­mente zu entwick­eln, einen KI-Agen­ten, der Vorge­set­zte von alltäglich­er Rou­tine ent­lastet. Zudem hat sich das Team vorgenom­men, mod­erne Führungssys­teme zu gestal­ten und die Auswirkun­gen auf Rol­len­bilder und Kom­pe­ten­zan­forderun­gen zu unter­suchen. Im let­zten Schritt entwer­fen die Wis­senschaftler einen kom­plet­ten Trans­for­ma­tion­sprozess. Die Ergeb­nisse wer­den in Lern­werk­stät­ten einge­spielt und sind dann allen in Deutsch­land ansäs­si­gen Unternehmen zugänglich. Gisela Lan­za erläutert: „Fir­men­vertreter kön­nen hier mit den Pilot­fir­men in den Aus­tausch gehen, sich inspiri­eren lassen. In einem Best-Prac­tice Beispiel sieht der Betrieb, welche Ele­mente und Tools es gibt, um sie dann an die eigene Prob­lem­stel­lung anzu­passen.“ In den Werk­stät­ten simulieren die Forsch­er sog­ar in ein­er Spielumge­bung neue Hier­ar­chiemod­elle, wenn zum Beispiel kein Chef mehr da ist und die Mitar­beit­er den Shopfloor selb­st organ­isieren müssen.

Optimalität trotz Dezentralität

Einige Trends kön­nen die Wis­senschaftler heute schon aus­machen: Die Sys­tem­gren­zen für den Einzel­nen wer­den aus­geweit­et. „Der Mechaniker, der bish­er nur eine Mas­chine bedi­ent hat, wird in Zukun­ft die ganze Lin­ie orchestri­eren“, fasst Lan­za zusam­men, „der Meis­ter wird statt nur der Lin­ie das ganze Werk betreuen, und der Werk­sleit­er ist ver­ant­wortlich für die gesamte Sup­ply Chain.“ Jörn Stein­beck steuert Erfahrun­gen aus der Prax­is bei: „Unsere intel­li­gen­ten Sys­teme sam­meln Erfahrungswis­sen an, das früher beim Meis­ter ange­siedelt war. Ein gut trainiert­er Algo­rith­mus demokratisiert Fachwissen.“

Das hat natür­lich Auswirkun­gen auf die Unternehmen­skul­tur. Klas­sis­che Top-Down-Entschei­dungswege und kom­plexe Hier­ar­chien sind für agile, von Algo­rith­men und intel­li­gen­ten Assis­ten­zsys­te­men unter­stützte Pro­duk­tion­s­grup­pen zu schw­er­fäl­lig. Schon die Qual­itätssicherung bringt herkömm­liche Instru­men­tarien an ihre Gren­zen – Monat­sre­ports tau­gen wenig, wenn die Soft­ware Fehler und Anom­alien in Ist-Zeit meldet. Die Führungskraft selb­st wan­delt sich vom Anweis­er zum Coach. Die ler­nen­den Sys­teme übernehmen mehr und mehr die klas­sis­che Lösungskom­pe­tenz des Meis­ters, die Arbeit­er an der Mas­chine lösen viele Prob­leme selb­st. Dafür brauchen sie den Vorge­set­zten weniger als Kon­trol­linstanz, eher als Assis­tenz und Hil­festel­lung. Lan­za pos­tuliert: „Früher dacht­en wir, nur zen­trale Ein­heit­en arbeit­en effek­tiv, in Zukun­ft aber entste­ht Opti­mal­ität trotz Dezentralität.“

Kategorien: 2021, März